Samstag, 12. Mai 2012

Das natürliche Fressverhalten des Pferdes Teil 1



Um die Verhaltensweisen unserer Vierbeiner besser zu verstehen und tolerieren zu lernen, ist es vielleicht ganz interessant, einmal den Ablauf eines Pferdetages unter weitgehend natürlichen Umständen zu verfolgen. Wir können dabei keine aufsehenerregenden Ergebnisse erzielen, doch werden sich  manche aus unserer stets an falscher Stelle vermenschlichenden Sicht als Untugenden erscheinenden Eigenschaften als ihr genaues Gegenteil erweisen, als im Wildleben durchaus sinnvolle Handlungen und Reaktionen.

Fressen

Das Wichtigste im Leben eines Einhufers ist das Fressen. Das mag dem Anhänger edler Pferde, die gleichsam aus Feuer, Eleganz und Anmut zu bestehen scheinen, schockierend in den Ohren klingen, wie ja viele Zeitgenossen schon die Bezeichnung "fressen" als ausgesprochen herabsetztend empfinden. Seit wir in unseren Massenmedien mit wunderschönen Tiergeschichten nur so berieselt werden, gilt es als unschicklich, dass ein Rindvieh Gras oder ein Tiger ein Büffelkalb frisst und selbst in neutralen zoologischen Klassifikationen wird der Pflanzen- und Fleuschfresser zum "Pflanzenesser"  und "Fleischesser" veredelt. Manchmal ist es fast peinlich, mit anhören zu müssen, wie sich der Kommentator um das Wort "fressen" herumwindet und verzweifelt nach Ersatzwörtern sucht, wenn irgend so ein liebes Tierchen seine Nahrungsaufnahme zufälligerweise höchst unfein bewerkstelligt. Allerdings hat noch keiner von der aasessenden Hyäne berichtet und das Wort "fressen" ist allmählich, zumindest bei Tieren, fast wieder salonfähig geworden.

Fressen ist, wie bereits erwähnt, das Wichtigste für ein normales Pferd, wie übrigens für alle Lebewesen, denn ohne ausreichende Nahrungsaufnahme gibt es kein individuelles Leben und kein Fortbestehen der Art. Diese grundsätzlich wichtige Nahrungsaufnahme, die für Mensch und Tier natürlich gleichermaßen gilt, ist für die Einhufer durch gewisse anatomische Besonderheiten auch noch zur zeitraubendsten Tätigkeit geworden, der sie im Laufe eines Tages nachzugehen pflegen.

Pferde sind bekanntlich reine Pflanzenfresser. Da jedoch selbst hochwertige pflanzliche Kost niemals so konzentriert wie tierische ist, benötigen sie eine verhältnismäßig große und voluminöse Futtermenge, um ihr Körpergewicht bei normaler Aktivität zu erhalten (Erhaltungsfutter) bzw. das Wachstum der Föten und der Jungtiere (im Freileben eine Art Leistungsfutter) zu gewährleisten. Der ganze Verdauungsapparat der Pferde ist deshalb ziemlich umfangreich und in der Lage, auch nährstoffarmes Futter bestmöflich zu verwerten. Um den Verdauungssäften und den vorhandenen Darmkleinlebewesen die erforderliche Angriffsfläche zu bieten, müssen die manchmal recht grobstengeligen und hartfaserigen Pflanzen ausnehmend gut zerkleinert werden. Dieses Problem aller Pflanzenfresser wird in verschiedener Weise gelöst: Die große Gruppe der Wiederkäuer wie Rinder, Schafe, Antilopen, Kamele, Hirsche und auch die australischen Känguruhs bereitet die ziemlich schnell hinuntergeschlungene Futtermenge für die Verdauung durch den Wiederkäuakt vor, für den sie, meist in Ruhelage, den Nahrungsbrei wieder in die Mundhöhle heraufwürgen und ihn noch einmal sehr sorgfältig zerkleinern. Bei den Einhufern, die kein Vormagensystem besitzen, dafür aber einen mächtig entwickelten Blinddarm, der die Hauptaufbereitung der Nahrung übernimmt, ist eine gleich zu Beginn einsetzende gute mechanische Zerkleinerung des Futters in einem einzigen Arbeitsgang besonders wichtig.

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